20.05.2020 11:55 Alter: 4 yrs
Kategorie: Außenwirtschaft
Von: Rechtsanwalt Stefan Dinkhoff

Exportkontrolle/Vertragsrecht: OLG Hamburg legt Praxisfragen der Anti-Boykott VO (= EU Blocking VO) dem EuGH vor

Vor einem Dilemma zu stehen, ist in diesen Tagen allgegenwärtig. Doch nicht nur in der Coronakrise sind wir zuweilen gezwungen, uns zwischen zwei gleichermaßen unbefriedigenden Alternativen zu entscheiden. Die Anti-Boykott VO 2271/96 (oftmals auch EU Blocking VO genannt) kann hierfür als beredtes Beispiel gelten.

Mit Entscheidung vom 2. März 2020 hat das OLG Hamburg einige Praxisfragen zur Auslegung der Verordnung an den EuGH vorgelegt (OLG Hamburg, 11 U 116/19). Dem Vorlagebeschluss war eine Entscheidung des LG Hamburg vorausgegangen (LG Hamburg, 28.11.2018 - 319 O 265/18). Auch das OLG Köln (OLG Köln, 07.02.2020 - 19 U 118/19, vorgehend LG Bonn 14.05.2019 - 10 O 505/18, BeckRS 2019, 22627) hatte in einer ähnlichen Fallgestaltung Lösungen finden müssen, freilich in eine andere Richtung gehend, als jetzt das OLG Hamburg (dazu später).

Gemeinsam ist diesen Entscheidungen (und einigen weiteren sachnahen Entscheidungen des LG Bonn), dass jeweils die Telekom Kündigungen von Telekommunikations-Dauerschuldverträgen ggnü. in der US-amerikanischen SDN-List gelisteten Unternehmen ausgesprochen hat; im hamburger Fall ggnü. der der iranischen Bank Melli. Der Telekom-Slogan "Erleben, was verbindet" sollte damit für die hamburgische Tochter der Nationalbank des Iran in sein Gegenteil verkehrt werden.

In den Vorinstanzen wurden die ausgesprochenen fristlosen Kündigungen jeweils in einstweiligen Verfügungsverfahren gekippt. Streitpunkt des jüngsten OLG-Vorlagebeschlusses ist nun aber die Wirksamkeit der zudem „vorsorglich“ ausgesprochenen ordentlichen Kündigung „zum nächstmöglichen Zeitpunkt“. Begründet wurde diese ordentliche Kündigung nicht. Die Telekom beruft sich auf die Vertragsfreiheit. Das OLG stellt allerdings u.a. fest, dass unter demselben Datum der ursprünglichen fristlosen Kündigung die Telekom „mindestens vier weitere Kunden mit Iran-Bezug und Sitz in Deutschland“ mit gleichlautenden Schreiben gekündigt hat. Die Bank Melis sieht auch in der (nicht weiter begründeten) ordentlichen Kündigung einen Verstoß gegen Art. 5 Anti-Boykott VO 2271/96.

Das OLG Hamburg nahm diese Ausgangslage nun zum Anlass, dem EuGH einige Praxisfragen zur Entscheidung vorzulegen, welche ich im Folgenden leicht abgewandelt/vereinfacht wiedergeben und erläutern möchte. Die anstehende EuGH-Entscheidung dürfte für Unternehmen, die sich in dem Dilemma befinden, nicht gegen die Anti-Boykott VO 2271/96 und zugleich nicht gegen US-Sekundärsanktionen verstoßen zu wollen, einigen Erkenntnisgewinn bringen:

1. Genügt es für die Anwendung des Boykott-Verbotes des Art. 5, dass das Handeln des EU-Wirtschaftsteilnehmers auch ohne direkt oder indirekt ergangener US-behördlicher oder gerichtlicher Anweisungen darauf gerichtet ist, Sekundärsanktionen zu befolgen? Oder bedarf es im Gegenteil entsprechender Anweisungen?
Das OLG Köln ist insoweit entgegen dem OLG Hamburg der Ansicht, dass in einer solchen Konstellation Art. 5 schon gar nicht anwendbar sei. Das OLG Hamburg meint demgegenüber, dass das mit Art. 5 verfolgte Verbot, bestimmte US-Sanktionen zu befolgen, nur dann effektiv umgesetzt werden könne, wenn das Verbot schon dann greift, wenn ein Handeln allein auf der anzunehmenden Motivation beruht, nicht gegen US-Sekundärsanktion zu verstoßen.

Kurzum: Mit der Argumentation des OLG Hamburg wären EU-Wirtschaftsteilnehmer sehr schnell im Verbot des Art. 5; auch wenn sie es (vermeintlich klugerweise) vermieden haben, sich auf US Sekundärsanktion zu berufen.

2. Steht Art. 5 (sollte der EuGH – wie das OLG Hamburg – der ersten Alt. folgen) der Wirksamkeit von ordentlichen (nicht begründeten) Dauerschuldvertrags-Kündigungen ggnü. SDN-gelisteten Unternehmen entgegen? Oder bedarf es hierfür eines (darzulegenden und zu beweisenden) nicht-US-sanktionsbedingten Kündigungsgrundes (= sekundäre Darlegungslast des Kündigenden)?
Hintergrund dieser Fragestellung ist Ziff. 5 des Leitfadens zur Anti-Boykott VO 2271/96, in dem die Kommission betont, die Verordnung solle gerade „sicherstellen, das Geschäftsentscheidungen weiterhin frei getroffen werden können“. Dies wurde bislang von vielen dt. Gerichten dahingehend (bei der Auslegung des Art. 5) berücksichtigt, dass ein vertraglich vereinbartes Recht zur ordentlichen Kündigung jederzeit ausübbar sei. Das OLG Hamburg ist demgegenüber der Auffassung, dass das Verbot des Art. 5 bei dieser Auslegung sein Zweck nicht erfüllt und nimmt einen Verstoß gegen Art. 5 an, wenn das ausschlaggebende Motiv einer Kündigung ist, die US-Sanktionen zu befolgen.

3. Sollte der EuGH – wie das OLG Hamburg – der zweiten Alt. folgen: Ist eine gg. Art. 5 verstoßende (ordentliche) Kündigung zwingend als unwirksam anzusehen (§ 134 BGB) oder ist dem Zweck der Verordnung mit anderen Sanktionen, beispielsweise der Verhängung eines Bußgeldes, genügt?
Hintergrund dieser Fragestellung ist § 134 BGB, der ein gegen ein gesetzliches Verbot verstoßendes Rechtsgeschäft als nichtig betrachtet, „wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt“.
Das OLG Hamburg sieht Art. 5 als ein entsprechendes Verbotsgesetz an. Allerdings verweist es auch auf die Bußgeldanordnung des § 82 Abs. 2 S. 1 AWV i.V.m. § 19 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 und Abs. 6 AWG. Angesichts der Bußgeldanordnung sei es überlegenswert, eine (zusätzliche) zivilrechtliche Unwirksamkeit der Kündigung als unverhältnismäßig anzusehen. Die gelte insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass die Verordnung nicht unmittelbar dem Schutz von solchen Unternehmen diene, die von US-Sekundärsanktion betroffen sind.

4. Sollte der EuGH – wie das OLG Hamburg – zwingend die Unwirksamkeit annehmen: Gilt dies mit Blick auf die EU-Grundrechtecharta und die Möglichkeit der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen nach Art. 5 Abs. 2 auch, wenn dem EU-Wirtschaftsteilnehmer mit der Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung zum gelisteten Vertragspartner erhebliche wirtschaftliche Verluste auf dem US-Markt drohen (hier: 50 Prozent des Konzernumsatzes)?
Mit dieser Frage stößt das OLG Hamburg auf den Kern des Problems: Damit erkennt es an, dass sich für den Fall, dass es bei seinen – systematisch durchaus stringenten argumentierten - Rechtsauslegungen zu den Fragestellungen 1-3 richtig liegen sollte (s.o.), ein Dilemma auftut: Gerade Unternehmen wie die Telekom mit US-Konzernumsätzen von 50 % stünden bei Befolgung des entsprechend interpretierten EU-Rechts vor erheblichen wirtschaftlichen Einbußen. Insoweit hat das OLG Hamburg an seiner eigenen Auslegungen Zweifel und fragt, ob diese nicht im Hinblick auf Art. 16 und 52 der
EU-Grundrechtecharta sowohl gegen die grundrechtlich geschützte unternehmerische Freiheit als auch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.

Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH sich zu diesen durchaus praxisrelevanten Fragestellungen des EU-Anti-Boykott-Rechts positioniert.

Verfasser: Rechtsanwalt Stefan Dinkhoff